In diesem Praxisbeispiel erfahren Sie, wie Sie mit Lehrvideos und der Methode „Inverted Classroom“ wiederholende Einheiten in die Selbstlernphase der Studierenden auslagern können. Sie gewinnen einen Eindruck über die Ausgestaltung der Methode und erhalten hilfreiche Tipps zum Aufbau, der Erstellung und Bereitstellung der von Lehrvideos.
Der Wunsch nach Veränderung in der eigenen Lehre
In meiner Lehre im Bereich Usability Engineering und User Experience Design gibt es bestimmte Themen, die ich jedes Semester immer wieder neu vermittele. Das sind z.B. Begriffsdefinitionen oder Beschreibungen von Methoden. Ich konnte für mich feststellen, dass ich irgendwann diese Themen nach einigen Wiederholungen nicht mehr mit dem gleichen Elan und Engagement vermitteln konnte, wie das noch bei den ersten Malen der Fall war. Außerdem vergaß ich manchmal, ob ich bestimmte Aspekte im aktuellen Semester schon angebracht hatte oder nicht.
Neugestaltung der Lehre mit Inverted Classroom und Lehrvideos
Aus diesem Grund entschied ich mich meine Lehre neu zu gestalten und die immer wiederkehrenden Elemente als Videos aufzuzeichnen und den Studierenden zur Verfügung zu stellen. Ich entwickelte ein Konzept nach den Grundprinzipien des Inverted Classrooms. Das heißt, ich erstelle am Anfang eines Semesters für jede Lehrveranstaltung einen konkreten Plan, welche Themen in welcher Sitzung in welcher Woche besprochen werden. Die Studierenden schauen sich vorbereitend auf eine Sitzung die jeweiligen Videos an und lösen Übungsaufgaben. Diese Aufgaben werden dann in den Sitzungen besprochen.
Die Videos zu den Themengebieten haben eine Länge von 15 bis 35 Minuten. Am Ende jedes Videos erläutere ich die entsprechende Übungsaufgabe, welche das Thema an Alltagsbeispielen vertieft. Diese Beispiele können meist von den Studierenden selbst gewählt werden. Ich gebe lediglich den allgemeinen Kontext vor, z.B., die Art einer Website, anhand derer eine bestimmte Methode angewendet werden soll. Neben den Videos stelle ich den Studierenden auch die vorgestellten Folien zur Verfügung.
In den Sitzungen vertiefe ich die Themen mit den Studierenden. Dafür mache ich zu Beginn ein kurzes Folien-Karaoke. Ich zeige eine Folie aus dem jeweils vorzubereitenden Video an und lasse sie von den Studierenden erläutern. Danach können die Studierenden Fragen zum Themengebiet stellen. Dann stellen die Studierenden ihre Übungslösungen vor und ich gehe auf Besonderheiten oder Fehler in den Lösungen ein bzw. diskutiere diese mit den Studierenden.
Für eine Vorlesungseinheit mit 90 Minuten bereiten die Studierenden 2 Themen mit dem jeweiligen Video und der Übungsaufgabe vor. Meist betrachten wir dann 2 bis 3 studentische Lösungen pro Thema. Eher selten reizen wir dabei die vollen 90 Minuten einer Sitzung aus, was für die Studierenden einen zeitlichen Vorteil bietet. Die Sitzungen finden hybrid über Zoom statt. Somit können Studierende sowohl in Präsenz als auch online teilnehmen und ihre Lösungen präsentieren. Auch wenn die Studierenden vor Ort sind, teilen Sie zur Übungspräsentation Ihren Bildschirm via Zoom, während ich das Zoomfenster auf die Leinwand projizieren. Damit können alle Teilnehmenden, ob in Präsenz oder online, die Lösungen sehen und nachvollziehen.
Der Aufbau der Videos
Die Umsetzung des Konzepts war mit einigem Aufwand verbunden. Mein Anspruch war es Videos zu produzieren, die anschaulich und nicht langweilig sind. Ich habe mich hierfür an typischen Tutorials, wie sie z.B. auf YouTube zu finden sind, orientiert. Die Videos haben kurze Anfangs- und Endjingles, während der Thementitel bzw. ein Abschlussbild gezeigt werden. Bei der Vorstellung des Themas wechsele ich zwischen zwei Darstellungen. In der ersten Variante, dargestellt im folgenden Bild, sieht man links die Folien, die das Thema beschreiben, und rechts mich als Sprecher vor einem schwarzen Hintergrund. Diese Darstellung verwende ich z.B. zur Begrüßung, zur Abmoderation oder wenn ich Zusatzinformationen zu einer Folie erläutere. In der anderen Variante sieht man ausschließlich die Folien, während ich dazu spreche. Dies bietet sich an, wenn ich einen bestimmten Aspekt initial erläutere.
Technik und Software zur Videoaufnahme, -bearbeitung und -bereitstellung
Die Videos nehme ich am Stück auf, um anschließend nur minimal nachbearbeiten zu müssen. Dafür habe ich mir das frei verfügbare Tool OBS entsprechend eingerichtet. Hier kann man die unterschiedlichen Darstellungen oder abzuspielende Jingles voreinstellen und Shortcuts einrichten, mit denen man zwischen den Sichten hin und herschalten oder die Jingles abspielen kann. Natürlich geht bei einer Aufnahme auch mal etwas schief. Dann kann ich aber wieder neu ansetzen, z.B. bei der letzten Folie, die ich im Vollbild gezeigt habe. Nach der Aufnahme brauche ich dann nur noch die fehlerhaften Teile des Videos herausschneiden. Hierfür verwende ich das Tool DaVinci Resolve, mit dem solche Schnitte schnell und einfach machbar sind. Für 10 Minuten Videomaterial brauche ich ca. 20 Minuten für den Schnitt, damit ein rundes Endergebnis entsteht.
Anfänglich bedurfte es schon einiges an Aufwand. Ich musste OBS und DaVinci Resolve erst kennenlernen, war aber mit grundlegenden Konzepten der Videobearbeitung bereits vertraut. Ebenso musste ich mir ein kleines Aufnahmestudio mit Kamera, Licht, Hintergrund und Mikrofon einrichten. Dieses Setup war anfänglich noch sehr einfach gehalten, mit der Zeit aber immer ausgereifter. Mittlerweile kann ich ca. 2 Videos an einem Vormittag aufzeichnen, nachbearbeiten und zur Verfügung stellen, sofern ich mir vorher die Folien und das Thema noch mal in Ruhe angesehen habe. Tatsächlich ist die größte Herausforderung auch nicht das Video aufzunehmen oder es zu bearbeiten, sondern viel mehr zu entscheiden und zu wissen, was man wann sagen möchte. Dafür ist es sehr hilfreich vor der Aufnahme den jeweiligen Foliensatz einmal vollständig durchzusprechen.
Meine Videos stelle ich bei YouTube auf einem eigenen Kanal zur Verfügung. Das hat den Vorteil, dass die Studierenden von überall darauf zugreifen können und auch die Abspielgeschwindigkeit anpassen können. Außerdem können so auch andere Menschen auf die Videos zugreifen und sich die Themen aneignen, was mir sehr wichtig ist. Letztendlich wird meine Arbeit von der Gesellschaft bezahlt und ich habe auf diese Weise die Möglichkeit etwas zurückzugeben. Zudem ist der YouTube Kanal für mich ein Teil der heutzutage immer wichtigeren persönlichen Außendarstellung.
Feedback der Studierenden
Das Feedback der Studierenden zum Lehrkonzept ist weitestgehend positiv. Die Videos werden als sehr gut bewertet, wobei die Videos mit einer Länge von über 30 Minuten als etwas zu lang wahrgenommen werden. Ich habe daher schon manche Videos gekürzt oder aufgeteilt. Auch das Konzept des Inverted Classroom wird gern gesehen. Allerdings habe ich immer wieder auch negative Rückmeldungen. Manche Studierenden empfinden den Vorbereitungsaufwand als zu hoch. Auf Nachfrage der effektiven Arbeitszeiten ergibt sich jedoch, dass der erbrachte Aufwand recht gut zu den erhaltenen ECTS passt.
Andere Studierende wiederum kommen ungern in die Übungsbesprechung aus Angst drangenommen zu werden. Meist sind das Einzelpersonen. Die angeführten Gründe sind z.B., dass man neben dem Studium arbeiten muss und dann nicht so viel Zeit für die Vorbereitung bleibt. Anderen Studierenden ist es unangenehm vor ihren Kommilitonen sprechen zu müssen und ggf. etwas Falsches zu sagen. Tatsächlich ist es auch für mich eine Herausforderung, auf falsche Lösungen oder auf ungenügende Vorbereitung angemessen zu reagieren. Es ist wichtig in diesen Situationen den Studierenden positiv zu begegnen und sie zu motivieren am Ball zu bleiben. Aber je nach Situation im Semester fällt es trotzdem schwer. Wenn z.B. parallel viele andere Prüfungsleistungen, wie Projektarbeiten, abzugeben sind, dann ist der Anteil der unvorbereiteten Studierenden schon höher. Im schlimmsten Fall muss ich dann eine Übungslösung selbst spontan erarbeiten und vorstellen.
Manche Studierenden sind der Meinung, dass ich zusätzlich zu den Folien noch ein Skript anbieten sollte, da ich in den Videos manchmal Dinge erwähne, die nicht explizit in den Folien stehen. Ebenso würden Sie sich Musterlösungen für die Übungen wünschen. In dem Fall müsste man sich nicht die Videos ansehen und auch nicht notwendigerweise zu den Übungsbesprechungen kommen. Hier zeigt sich, dass die Studierenden sehr vielfältig in ihren Anforderungen und Arbeitsweisen sind und es nicht möglich ist mit diesem Konzept immer alle zu erreichen. Ich gebe allerdings bewusst kein Skript und auch keine Übungslösungen heraus. Dies erlaubt es mir am Anfang des Semesters die Themen frei zusammenzustellen. Außerdem hoffe ich auf diese Weise zu erreichen, dass sich die Studierenden kontinuierlich mit den Themen auseinandersetzen. Bei der Mehrzahl der Studierenden gelingt das auch.
Fazit
Für mich hat das Konzept tatsächlich die Vorteile gebracht, die ich mir erhofft habe. Ich muss nicht immer wieder die gleichen Inhalte präsentieren. Ich brauche mich auch kaum auf die Übungsbesprechungen vorzubereiten. Der Grund dafür ist, dass ich selbst die ausgewählten Beispiele der Studierenden aus den Übungslösungen nicht kenne. Ich muss stattdessen spontan in der Sitzung auf die Lösungen reagieren und auf mein Wissen im Themengebiet vertrauen. Hier komme ich auch mal an meine Grenzen. Aber je mehr Übungsbesprechungen ich auf diese Weise mache, umso leichter fällt es mir auf die Studierenden zu reagieren. Letztendlich bringen die studentischen Beispiele auch immer wieder Spaß mit sich. Wir haben z.B. mal durchdekliniert, warum ein Wasserkocher zum Kochen von Suppe auf einem Campingplatz eine schlechte User Experience hat. Ebenso konnten wir gemeinsam Vorschläge erarbeiten, wie der Corona-Check-In in den Hörsälen besser hätte gestaltet werden können. Auf solche Beispiele wäre ich nie gekommen, wenn ich immer alles fest vorgegeben hätte. Und die Studierenden sind engagierter, wenn wir auch Beispiele aus ihrem Alltag besprechen und gelegentlich etwas Außergewöhnliches passiert.
Der Beitrag wurde veröffentlicht im September 2022 und zuletzt aktualisiert im September 2022.