In diesem Praxisbeispiel aus der Fakultät Angewandte Chemie erfahren Sie, wie die Pandemie die Chance eröffnet hat, altbewährte Konzepte von Fallbeispielen und Praktika in einem digitalen Planspiel neu zu konzipieren und somit Studierenden einen umfangreicheren Einblick in die Arbeit der Wirkstoffentwicklung in der Pharmaindustrie zu ermöglichen.
Die Herausforderung
Bisher hatten die Studierenden die Möglichkeit, in den Praktika zur Wirkstoffentwicklung vor Ort praktische Erfahrungen zu sammeln und in Gruppenarbeiten Personenkompetenzen zu festigen. Die Pandemie hat diese Form der Präsenz-Veranstaltung vor eine große Herausforderung gestellt und eine Neukonzeption des gesamten Moduls erforderlich gemacht.
Hintergrund zum Praktikum
Seit nunmehr 10 Jahren wird von den Professoren Dr. Stefan Heuser, Dr. Ronald Ebbert sowie Dr. Ralf Lösel das Modul „Wirkstoffchemie“ im Masterstudiengang Angewandte Chemie angeboten. Essentieller Teil des Moduls für die beiden Studienrichtungen Biochemie und Chemie war bisher auch ein Laborpraktikum vor Ort.
In diesem Praktikum wurden verschiedene Phasen der Wirkstoffentwicklung in drei unterschiedlichen Gruppen bearbeitet. Dabei wurden die Disziplinen Chemie, Biochemie, Bioanalytik sowie Pharmazeutische Chemie abgedeckt. Die Studierenden mussten sich gemäß ihrer Interessen und ihres fachlichen Schwerpunktes für einen Themenschwerpunkt entscheiden. So stellte eine Gruppe vollkommen neue, vielversprechende Wirkstoffe her, eine zweite untersuchte diese neuen chemischen Strukturen auf ihre biologische Aktivität und die dritte Gruppe widmete sich generellen Eigenschaften dieser Substanzen, die essentiell für die Eignung als Wirkstoffe in Medikamenten sind.
Das Praktikum deckte dabei in stark verkürzter Form ca. die ersten vier Jahre der Medikamentenentwicklung – siehe violetter Bereich in der Abbildung 1 – ab und ermöglichte so den Einblick in die frühe Wirkstoffentwicklung in Pharmaunternehmen.
Das digitale Konzept zum Praktikum
Die Pandemie hat es unausweichlich gemacht, das Praktikum in ein digitales Format zu überführen. Die beteiligten Professoren haben den Kurs vollständig überarbeitet und neu konzipiert. Entstanden ist ein digitales Praktikum, welches vollständig online über einen Moodle Kurs verfügbar ist und mit Lehrmaterialien wie Präsentationen, Videos und PDFs arbeitet. Zudem setzt es zu Beginn zunächst auf Aufgaben, die von allen Studierenden individuell bearbeitet werden müssen. Im weiteren Verlauf verlagert sich der Schwerpunkt schließlich auf Gruppenarbeiten, bei denen die Studierenden das im Rahmen der Vorlesung Gelernte anwenden und diskutieren können.
Anders als in der Präsenzveranstaltung sieht das digitale Konzept keine Trennung mehr in die drei unterschiedlichen Gruppen vor. Jede*r Studierende durchläuft im digitalen Praktikum den gleichen Prozess und erhält einen Einblick in den Ablauf der Wirkstoffentwicklung. Der Vorteil: die Studierenden erarbeiten und durchlaufen nicht mehr nur einzelne Aufgabenbereiche bzw. Teilabschnitte im gesamten Prozess, sondern alle gewinnen jetzt die gleichen Lernerfahrungen. Zusätzlich fördert dieses Konzept das Verständnis für die jeweils benachbarten Forschungsdisziplinen und bereitet die Studierenden zielgerichtet auf die Praxis vor, da auch in der modernen Pharmaindustrie ein Verständnis für angrenzende Disziplinen und Fachrichtungen unabdingbar für die erfolgreiche Entwicklung von Medikamenten ist.
Aufbau des digitalen Praktikums in Moodle
Der Moodle Kurs ist konsekutiv gestaltet. Weiterführende Aufgaben werden erst nach Abgabe einer Lösung zur vorangegangenen Aufgabe freigeschaltet. Die Studierenden erhalten die Möglichkeit nach jedem Abschnitt Ihre Ergebnisse anhand von Lehrvideos, Folien und anderen Medien zu überprüfen und werden so durch die Fallstudie geleitet.
Mit den freigeschalteten Bereichen erhalten die Studierenden in der Fallstudie immer wieder Input und Materialien, die Sie für die weitere Erarbeitung benötigen. Da diese Materialien im Kurs hinterlegt sind, arbeiten die Studierenden zu Anfang selbstgesteuert. Erst im späteren Verlauf, wenn sich die Studierenden in Kleingruppen mit der Kür ihres klinischen Kandidaten für die klinische Erprobung eines Wirkstoffs beschäftigen, ist die Interaktion mit den Lehrenden ein zentraler Bestandteil des Praktikums. Der Dozent schlüpft dabei zeitweise auch in die „Rolle eines Tierversuchs“, der zur weiterführenden Testung der Wirkstoffe herangezogen wird.
Ablauf der Fallstudie im Praktikum
Zu Anfang des digitalen Praktikums wird den Studierenden ein hypothetisches Protein der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) vorgestellt, welches einen interessanten Ansatz zur Behandlung von Diabetes darstellt. Da angenommen wird, dass es ein sehr ähnliches Protein auch im Gehirn gibt und dieses bei Interaktion mit möglichen Wirkstoffen gegen Diabetes im Verdacht steht, Erinnerungsverluste auszulösen, müssen die Studierenden eine möglichst hohe Selektivität ihrer Wirkstoffe zugunsten des Proteins im Pankreas im Fokus behalten. In den folgenden Aufgaben lernen sie, wie sie zunächst chemische Substanzen finden können, die überhaupt mit dem Bauchspeicheldrüsen-Protein interagieren und möglichst nicht zu Erinnerungsverlusten führen. Diese vielversprechenden Substanzen, die sogenannten „Hits“, müssen von den Studierenden in zwei weiteren aufeinander aufbauenden Aufgaben anhand von detaillierteren Datensätzen auf Ihre grundsätzliche Eignung für ein Wirkstoffentwicklungsprojekt beurteilt werden. Sie können so eine ideale Leitstruktur auswählen, mit der sie sich im Folgenden intensiv weiter beschäftigen wollen. Im Verlauf des Praktikums erlangen die Studierenden dann anhand von Aufgaben, weiteren Datensätzen und Videos genauere Kenntnisse über die Struktur-Wirkungsbeziehungen ihrer Wirkstoffkandidaten. Sie verstehen also besser, welchen Einfluss Modifikationen der chemischen Struktur auf die biologische Aktivität haben.
Mit dem gewonnenen Wissen startet anschließend die Gruppenarbeit, bei der die weitere Optimierung der Leitstruktur im Fokus steht. In diesem Teil des Praktikums gibt es dann auch einen steten Austausch zwischen Studierenden und Dozenten. Die Studierenden sollen in insgesamt 3 Iterationen die Leitstruktur hinsichtlich Aktivität, Metabolismus und Toxizität derart optimieren, dass jede Gruppe am Ende der dritten Iteration einen Klinischen Kandidaten küren kann, der die für die klinische Testung nötigen Eigenschaften mitbringt. In jeder dieser drei Iterationen sollen die Studierenden ausgehend von der Leitstruktur 6 Moleküle vorschlagen, für die sie biologische Daten erhalten. Der Dozent schlüpft hier zunächst in die Rolle des biologischen Testsystems und gibt den Studierenden für jede der sechs Substanzen biologische Aktivitäten – jeweils für die beiden Proteine in der Bauchspeicheldrüse und im Gehirn. Basierend auf diesen Daten können die Studierenden dann zwei der sechs Moleküle aussuchen, um diese in einem (hypothetischen) Tierversuch auf die gewünschte Wirkung als Diabetes Medikament zu untersuchen. Damit ist die erste Iteration abgeschlossen – zwei weitere folgen. Am Ende der dritten Iteration steht schließlich die Wahl des Klinischen Kandidaten an. In einer finalen Abschlusspräsentation in Videoform, wird den Studierenden der ideale klinische Kandidat vorgestellt, denn genau wie in der Praxis, lässt das Verfahren vielfältige Lösungen zu. Als kleiner Ansporn werden zudem die Mitglieder der Gruppe, deren klinischer Kandidat dem idealen Ergebnis am Nächsten kommt, als informelle Sieger*innen gekürt.
Erfahrungen und Feedback
Das Praktikum in seiner digitalen Form wurde bisher drei Mal durchgeführt. Das Feedback sowie die Evaluierungen sind durchgehend positiv. Studierenden gefällt, dass Sie das bereits gewonnene Wissen aus den Vorlesungen an einem konkreten Fall anwenden und in die Praxis überführen können. Das Praktikum hat mit dem digitalen Konzept einen noch stärkeren Projekt-Charakter erhalten.
Der Aufwand für die Entwicklung eines neuen digitalen Konzepts und die Übertragung des Präsenzpraktikums in dieses Konzept, war zu Anfang durchaus hoch. Sowohl die Struktur als auch die Materialien (Videos, Präsentationen, Hand-Outs) mussten neu erstellt werden. Jedoch bietet das digitale Praktikum die Chance den Aufwand vor Ort zu reduzieren und ermöglicht eine schnellere und direktere Betreuung durch die Lehrenden. So wird die aufwändige und zeitintensive Herstellung von Substanzen im Labor durch direkte digitale Ergebnisse abgelöst.
Der Beitrag wurde veröffentlicht im Januar 2023 und zuletzt aktualisiert im Januar 2023.